Das wohl umstrittenste Buch zum Thema Demenz hat Tilman Jens geschrieben. Er beschreibt schonungslos den intellektuellen Niedergang seines Vaters. Der begnadete Rhetoriker und Schriftsteller, Walter Jens, verliert seine Sprache. Das wichtigste Werkzeug seines Lebens.
Mit seinem Buch nimmt der Sohn Abschied. Er beschreibt den Weg eines „Virtuosen des Wortes“ durch den gnadenlosen Verfall. Die Geschichten, z. B. wie Walter Jens immer wieder den Weg in seine Bibliothek findet, in der er dann ganz verloren vor sich hinzudämmern scheint, haben mich berührt. Zeigen sie doch, dass da „noch etwas ist“. Nicht mehr greifbar für den Erkrankten und schmerzhaft für die Angehörigen. Die Hilflosigkeit des Sohnes gegenüber dem geistigen Verfall des Vaters ist förmlich zu spüren.
Der Sohn glaubt, dass der Vater u. a. aus Scham über seine bekannt gewordene NSDAP-Mitgliedschaft krank wurde. Medizinisch gesehen ist das Unsinn. Ich glaube jedoch nicht, wie viele Kritiker des Buches, dass Tilman Jens seinem Vater damit die Schuld an seiner Erkrankung geben wollte. Vielmehr ist es meiner Meinung nach der Versuch, eine Erklärung zu finden, wie ein immer rege gehaltener Geist plötzlich so verkümmern kann. Es ist verständlich, dass der Sohn sich „seine Erklärung“ sucht. Vielleicht gelingt ihm nur so der Umgang mit der Erkrankung.
Tilmann Jens bricht mit seinen Schilderungen ein Tabu. Denn seine Beschreibungen sind schonungslos und jeder Angehörige eines Demenzerkrankten wird die Geschichten irgendwie kennen. Von allen „Selbsterfahrungsbüchern“ zum Thema Demenz unterscheidet sich dieses vor allem durch die literarische und hochwertige Sprache.
Angaben zum Buch: Tilman Jens: Demenz – Abschied von meinem Vater, 144 Seiten, Gütersloher Verlagshaus, ISBN: 978-3-579-06998-2, 17,95 €.